Unter der verantwortlichen Redaktion von Prof. Dr. Klaus Eschenbruch formuliert die 1. Wissenschaftliche Vereinigung Projektmanagement (1. WVPM) neun Thesen zum Endbericht der Reformkommission Bau von Großprojekten des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur:
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Spektakuläre Fehlsteuerungen prägen die Großprojektabwicklung im In- und Ausland. Seit einigen Jahren häufen sich Hiobsbotschaften bei deutschen Großprojekten, wie etwa der Elbphilharmonie in Hamburg, dem Berliner Großflughafen, Stuttgart 21, Bundesnachrichtendienst, Hochmoseltalbrücke oder generell dem Fernstraßenbau in Nordrhein-Westfallen. Dies war im Jahre 2013 Anlass für die Bundesregierung, über den Bundesverkehrsminister, vormals Herrn Ramsauer, später Herrn Dobrindt, die Reformkommission „BMVI, Bau von Großprojekten“ einzuberufen und zu leiten. Diese Reformkommission, bestehend aus 36 Mitgliedern, vornehmlich Verbandsvertretern, zum Teil auch Vertretern der Planungs- und Bauwirtschaft sowie Juristen, war aufgefordert, Probleme bei der Planung und Realisierung von Großprojekten zu ermitteln, Ursachen aufzuzeigen, sich mit möglichen Lösungen auseinanderzusetzen und Handlungsempfehlungen für mehr Kostenwahrheit, Kostentransparenz, Effizienz und Termintreue bei Großprojekten zu erarbeiten. Im Juni 2015 legte die Reformkommission ihren Endbericht vor; nach dessen Veröffentlichung hat die Reformkommission im Dezember 2015 die erste Phase ihrer Arbeit abgeschlossen. Der Endbericht enthält eine Vielzahl von Vorschlägen zur Prozessverbesserung über die gesamte Wertschöpfungskette von der Bedarfsermittlung bis zur Inbetriebnahme von Großprojekten. Zur Umsetzung organisierte sich die Reformkommission in 7 Arbeitsgruppen betreffend optimierte Planungsabläufe, BIM, Risikomanagement, Finanzierung, Recht, partnerschaftliche Projektzusammenarbeit und Projektsteuerung. Die auf ca. 100 Seiten zusammengetragenen Analysen und Empfehlungen sind in der Fachwelt auf ein unterschiedliches, überwiegend negatives Echo gestoßen.
- Spiegel Online titelte mit „Dobrindts Bauklötzchen“:
„Der abgesegnete Aktionsplan erinnere an den Lehrstoff, den Architekturstudenten in den Vorbereitungskursen zum Grundstudium durcharbeiten müssen.“[1] - Die Stuttgarter Zeitung titelte:
„Ramsauers Reformkommission – ein Tummelplatz für Lobbyisten.“[2] - Thesen der GPM beanstanden das Fehlen jeglichen Bezuges zu nationalen und internationalen Projektmanagementstandards.[3]
Die 1. Wissenschaftliche Vereinigung Projektmanagement sieht in dem Endbericht der Reformkommission Bau von Großprojekten einen ersten wichtigen politischen Ansatz, der Planungs- und Bauwirtschaft als einem der größten deutschen Wirtschaftszweige erforderliche Unterstützung zu gewähren. Die deutsche Planungs- und Bauwirtschaft leistet viel, bedarf aber auch mehr Aufmerksamkeit und politischer Förderung. Diese Unterstützung hat bislang in Deutschland gefehlt, während es im europäischen Ausland, etwa in England, eine Vielzahl politischer Initiativen gegeben hat, Konzepte für eine Effektivitätssteigerung in der Projektwirtschaft zu entwickeln. International bestimmen nicht deutsche, sondern zunehmend britische Projektmanagement- und Planungsbüros die internationale Bühne der Projektrealisierungen. Es war also an der Zeit, dass die deutsche Politik ebenfalls Strategien zur Weiterentwicklung dieses Wirtschaftszweiges initiiert. Der Ansatz der Reformkommission war hier also ein richtiger erster Schritt.
Die Ergebnisse verdienen Zustimmung und Kritik zugleich.
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Der Auftrag an die Reformkommission, innerhalb kürzester Zeit allgemeingültige Lösungskonzepte für das Großprojektdilemma zu entwickeln und konkrete Handlungsempfehlungen aufzuzeigen, war anspruchsvoll. Innerhalb des zeitlichen Horizonts von knapp 2 Jahren waren keine Wunder zu erwarten. Die Reformkommission war eilig zusammengestellt worden. Mit Recht ist moniert worden, dass sie überwiegend aus Verbandsvertretern bestand. Die ausgerufene „no-blame-Strategie“ behinderte den Erkenntnisprozess und die vorurteilsfreie Ursachensuche: Keiner Wirtschaftsbranche sollten defizitäre Aufgabenerfüllungen vorgehalten werden. Der Ergebnisbericht der Reformkommission musste deshalb von vornherein ein Minimalkonsens sein, auf den sich Berufsvertreter einigen konnten. Im Rahmen der Endredaktion des Berichtes wurden die Arbeitsgruppenergebnisse nochmals „weichgespült“. Unter Zugrundelegung dieses Ansatzes konnte nichts grundlegend Neues erwartet werden. Dementsprechend enthält der Endbericht der Reformkommission eine Vielzahl von Reformvorschlägen, die ohnehin gesichertes Projektwissen darstellen. Allenfalls werden im Detail neue Entwicklungen – etwa hinsichtlich des sich thematisch parallel entwickelnden Themas der Digitalisierung (Stichwort BIM) aufgegriffen. Immerhin: Der Endbericht der Reformkommission enthält eine Vielzahl von Warnhinweisen, die von allen Projektbeteiligten zu beachten sind. Wer die Ergebnisse von vornherein missachtet, hat seine Handlungsweisen zu rechtfertigen. Der Ergebnisbericht definiert Mindeststandards sachgerechter Projektabwicklung.
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Wie der Endbericht der Reformkommission selbst ausweist, sind die Ergebnisse vornehmlich aus dem Erfahrungswissen der Mitglieder der Reformkommission gespeist. Empirische Untersuchungen über Ursachen für Fehlsteuerungen von Einzelprojekten durch die Reformkommission hat es nicht gegeben. Dazu hätte schon die Zeit nicht gereicht. Ob sich aus der Untersuchung von einzelnen fehlgeschlagenen Projekten wirklich verallgemeinerungsfähige Thesen ableiten ließen, ist ohnehin fraglich. Auch eine Auseinandersetzung mit der umfassenden Literatur zu den Ursachen von national und international diskutierten Projektstörungen und Fehlsteuerungen hat erkennbar nicht stattgefunden. Denn nicht einmal vergleichbare Reformansätze, wie sie etwa der Hamburger Senat anlässlich des Debakels der Elbphilharmonie durch die Mitteilung „Kostenstabiles Bauen – Fortentwicklung des öffentlichen Bauwesens“ hervorgebracht hat, wurden zur Kenntnis genommen.[4] Dies ist umso erstaunlicher, als der Hamburger Leitfaden eine durch Ergebnisse des Rechnungshofes gestützte Analyse beinhaltet und klare Umsetzungsstrategien für die Großprojektrealisierung im öffentlichen Bauwesen verlautbart. Auch wenn daher die Thesen der Reformkommission durch einen breiten Branchenkonsens gedeckt sind, fehlt eine belastbare empirische Absicherung und sie bedürfen im Einzelfall einer sachgerechten Überprüfung.
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Der Bericht der Reformkommission enthält unbestreitbar eine Vielzahl von Analyseergebnissen und auch prinzipiell geeigneten Vorschlägen zur Weiterentwicklung des deutschen Projektwesens. Die thesenartige Befassung mit den Ergebnissen in diesem Beitrag kann deshalb immer nur Ausschnitte des Endberichtes behandeln und nicht den Anspruch einer Gesamtwürdigung erheben. Ungeachtet der fehlenden wissenschaftlichen Fundierung und Absicherung ist der Endbericht der Reformkommission in einem grundsätzlichen Punkt unvollständig. Die aufgezeigten Defizite und Folgerungen der Reformkommission betreffen grundsätzlich alle Projekttypen. Die spezifischen Problemstellungen der Großprojektabwicklung werden weder als solche analysiert, noch überhaupt in Gänze erfasst und behandelt. Dies betrifft insbesondere:
- Die besonderen Strukturanforderungen an die Aufbau- und Ablauforganisation von Großprojekten;
- messbare Kriterien für die Eignung (Kompetenz und Erfahrung) der Mitglieder der Projektleitungen und der Lenkungsausschüsse;
- Methoden zur Bewältigung der begrenzten deterministischen Vorplanungsmöglichkeiten bei komplexen Projektzusammenhängen in Bezug auf Kosten und Termine;
- Abhängigkeiten und Macht einzelner Beteiligter;
- opportunistisches Verhalten von Projektbeteiligten;
- beengte Beschaffungsmärkte und Konsequenzen für das Beauftragungswesen;
- fehlende sachangemessene Leistungsbilder für Projektbeteiligte;
- abnehmende Wirkkraft der Verträge/notwendige Standardisierung des gesamten Vertragswesens.
Der Endbericht der Reformkommission Bau von Großprojekten ist eher ein Bericht im Allgemeinen zu beachtender Anforderungen ordnungsgemäßer Projektabwicklung, als ein Methodenkatalog zur Behandlung von Großprojekten.
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Planen vor Bauen: Eine wesentliche Aussage der Reformkommission ist das Gebot, erst nach einer abgeschlossenen und nochmals gegengeprüften Ausführungsplanung mit dem Bau zu beginnen. Ein derartiger Leitsatz ist sicherlich hilfreich. Es ist eine Binsenweisheit, dass paralleles Planen und Bauen die Gefahr des Misslingens erhöht. Die Gefahr gestörter Planungs- und Bauabläufe liegt auf der Hand und zeigt sich bei vielen Projekten, bei denen nicht mit einer abgeschlossenen Ausführungsplanung gebaut wird. Allerdings macht es sich die Reformkommission hier zu einfach. Es wird nicht zwischen den einzelnen Unternehmereinsatzformen und den damit verbundenen unterschiedlichen Planungsschnittstellen differenziert. Außerdem muss bedacht werden, dass die Planung von Großprojekten mit der Zeit immer komplexer geworden und der Anteil der technischen Gebäudeausrüstung dramatisch angestiegen ist. Die heutigen Planungszeiträume sind bereits überlang. Das Postulat einer fertigen Ausführungsplanung vor Planungsbeginn ist teilweise schon deshalb gar nicht einzuhalten, weil – wie die Reformkommission selbst hervorhebt – Teile der Ausführungsplanung oft nur noch von ausführenden Unternehmen erbracht werden können. Zum Teil ist der technologische Fortschritt in den Bereichen der technischen Ausrüstung so schnell, dass Planungsergebnisse überaltert sind, wenn die Ausführungsplanung fertiggestellt ist. Die Umsetzung der Anforderungen an eine fertige Ausführungsplanung in der Projektpraxis würde bedeuten, dass in vielen Fällen eine noch deutlichere Laufzeitverlängerung bei öffentlichen Bauprojekten eintritt. Private Projektrealisierungen, insbesondere solche von Projektentwicklungsunternehmen, werden weiterhin durch den Einsatz von funktionalen Baubeschreibungen als Beschaffungsgrundlage gekennzeichnet sein. Speziell der Verzicht des Bauens auf Basis von Teilbaugenehmigungen ist eher eine praxisferne allgemeine Empfehlung. Die Projektwissenschaft hat längst konkrete Risikoabwägungen erarbeitet und die Nachteile des parallelen Planens und Bauens, also das zu erwartende Störpotential einer Vergabe mit unfertiger Planung und möglichen Verkürzungen von Fertigstellungsfristen miteinander abgewogen. Die Wissenschaft kommt hier zu sehr differenzierten Lösungen.[5] Das Petitum der Reformkommission kann deshalb nicht mehr als ein Grundsatzvotum sein. Im Einzelfall ist eine konkrete Abwägung erforderlich, bis zu welcher Planungstiefe gearbeitet werden muss, bevor eine Vergabe stattfindet.
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Der heute bekannte Status zum Partnering wird im Abschlussbericht zutreffend dargestellt. Die Empfehlung, mehr mit Anreizmechanismen, Incentives und Zielpreisverträgen zu arbeiten, ist auch nicht neu.[6] Die Vorschläge werden allerdings unreflektiert rezitiert, obgleich sich die Nachteile aller dieser Konzepte längst gezeigt haben. Typischerweise sind bei diesen Verfahren erhebliche Gefahren in Bezug auf Mitnahmeeffekte gegeben. Der Nachweis einer wirklichen Effizienzsteigerung lässt sich im Allgemeinen nicht führen. Zielpreisverträge führen zu einer starken Abhängigkeit und wegen der Komplexität der Vergütungsabreden in der Praxis oft zu nicht unerheblichen Abwicklungsstörungen. Es gibt eben kein allgemeingültiges bestgeeignetes Managementmodell für die Abwicklung von Projekten. Allenfalls lässt sich sagen, dass Standardaufgaben der Projektrealisierung zumeist erfolgreich mit klassischen Austauschverträgen umgesetzt werden können, während Großprojektrealisierungen zur Stabilisierung der komplexeren und langdauernden Projektabwicklung auch den Einsatz von Partneringstrategien benötigen. In jedem Einzelfall ist daher kontextuell zu überprüfen, welcher Vertragstyp den Projekterfordernissen am ehesten entspricht. Unter diesem Vorbehalt eines kontextuellen Entscheidens müssen sämtliche Warnhinweise des Endberichts der Reformkommission gestellt werden.
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Die frühzeitige Beteiligung von Ausführungs-Know-how in den Beschaffungsprozessen, auch unter ÖPP-Gesichtspunkten, ist ebenfalls ein abstrakt vorteilhaft erscheinender Ansatz. Auf das sich damit für den Auftraggeber negativ verändernde Machtgefüge wird im Bericht der Reformkommission hingewiesen. In der Praxis steht darüber hinaus die erhebliche Reduzierung von Wettbewerb bei der Beauftragung im Vordergrund. Vergaberechtlich ist eine entsprechende Einsatzform nur einzelfallbezogen begründbar. Für die hier diskutierten Großprojekte existiert in Deutschland nicht einmal ein ausreichend breiter Markt von großen Generalunternehmen. Die an mehreren Stellen anklingende Präferenz für die Generalunternehmervergabe und die ÖPP-Realisierung (bei der in aller Regel eine Generalunternehmervergabe impliziert ist) überzeugt ebenfalls nicht. Die dazu in der Zwischenzeit existierenden kritischen Rechnungshofberichte werden nicht ausgewertet. Die Elbphilharmonie, eines der immer wieder zitierten Chaosprojekte, ist ein ÖPP-GÜ-Projekt und zeigt alle möglichen Fehlsteuerungen dieser Abwicklungsform auf.
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Die Empfehlungen zum Vergaberecht, nämlich die Ausklammerung von Großprojekten aus § 97 Abs. 3 GWB überzeugen nicht ohne weiteres. Eine Vielzahl großer Projekte öffentlicher und Sektorenauftraggeber wird erfolgreich ohne jedes Nachprüfungsverfahren abgewickelt, auch wenn derartige Projekte in Einzelvergaben durchgeführt werden. In aller Regel sind Nachprüfungsverfahren Folgen von Managementfehlern und unzulänglicher Kommunikation und kein Systemelement der Großprojektrealisierung. Auch die eingeforderte qualitätsorientierte und weniger preisorientierte Beschaffung ist mit den heutigen Instrumenten des Vergaberechts umsetzbar; sie scheitert eher an zu ehrgeizigen Budgets sowie an den oft nur schwer messbaren Kriterien der Qualität und der Angst der Beteiligten vor Fehlentscheidungen bei der Beauftragung teurerer Angebote.
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Unbeschadet der zu ergänzenden Liste von Detailkritikpunkten enthält der Endbericht der Reformkommission eine Vielzahl von zutreffenden Hinweisen und Geboten für eine sachgerechte Projektabwicklung, die allerdings heute für den erfahrenen Projektbeteiligten längst Standard sind. Wichtig erscheint das Aufgreifen von Strukturvorschlägen für Auftraggeberorganisationen, die notwendige Bestückung der Projektleitungen mit erfahrenen Projektfachleuten und die Hinweise auf die ohnehin mögliche und in der Praxis auch vielfach umgesetzte qualitätsorientierte Beschaffung sowie notwendige Anstrengungen zur Umsetzung digitaler Planungs- und Abwicklungsstrategien.
Zusammenfassend handelt es sich bei dem Endbericht der Reformkommission Bau von Großprojekten um einen wichtigen ersten Schritt politischer Unterstützung zur Verbesserung der Projektkultur in Deutschland. Auf den bisherigen Arbeitsergebnissen ist aufzubauen. In weiteren Schritten sollten die Thesen der Reformkommission anhand von konkreten Projektanalysen und Auswertungen des Standes der Wissenschaft evaluiert und bei der öffentlichen Hand auch in die Praxis umgesetzt werden. Hier haben die Hamburger Vorschläge bereits Modellcharakter. Schließlich sollte es darum gehen, die besonderen Problemstellungen des Großprojektmanagements herauszuarbeiten, zu analysieren und für diesen Projekttypus wirksame Umsetzungskonzepte zu entwickeln.
[1] Spiegel Online, 10.12.2015, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/alexander-dobrindt-aktionsplan-fuer-großprojekte-kommentar-a-1066947.html
[2] Wüpper, Thomas: Ramsauers Reformkommission – ein Tummelplatz für Lobbyisten. Stuttgarter Zeitung, 17.09.2013.
[3] Projektmanagement aktuell, Ausgabe 4/2015, S. 8, 10.
[4] Drucksache Kostenstabiles Bauen, 20/6208 vom 04.12.2012 der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft, Kostenstabiles Bauen.
[5] Vgl. dazu etwa Hossain, Thua, International Journal Project Management, 2014, 983 ff.
[6] Eschenbruch/Racky, Partnering in der Bau- und Immobilienwirtschaft, 1. Auflage 2008.